Nach fünf Tagen auf dem Friendship-Highway kommen wir und unsere obligatorische Reisegruppe in Lhasa an und packen zum ersten Mal seit Beginn dieser Tour unsere Rucksäcke aus. Hier sind wir endlich länger als nur eine Nacht am gleichen Ort. Doch wir halten es nicht lange im Hotel aus, wir wollen die Stadt erkunden. Von außen betrachtet ist Lhasa tatsächlich sehr chinesisch. Vorhin noch fuhren wir vorbei an Hochhäusern, an riesigen Betonklötzen. Die Straßen sind hier, wie im ganzen Land, bestens. Durch die Vororte von Lhasa ziehen sich vierspurige Schnellstraßen, alle mit hübschen Laternen und bepflanzten Mittelstreifen bestückt. Doch von unserem Hotel aus, welches am Rande der Innenstadt liegt, sind wir in zehn Minuten in ein anderes Lhasa gelaufen.
Pilgern auf dem Barkhor
Ein regelrechter Pilgerstrom wandert im Uhrzeigersinn um den Jokhang-Tempel herum, das bedeutendste Heiligtum innerhalb Lhasas. Wir sind auf den Barkhor gestoßen, den etwa 800 Meter langen Gebetsweg rund um den Jokhang und die angrenzenden Tempel. Von den vor sich hinschreitenden Tibetern motiviert, laufen wir mit. Runde für Runde. Alte Damen mit zwei langen, auf den Rücken fallenden Zöpfen kreisen kontinuierlich ihre Gebetsmühlen. Alte Herren halten eine Gebetskette, die Mala, in der Hand und lassen Perle für Perle durch ihre Finger gleiten. Wir sehen eine Gruppe junger Tibeter, die sich Plastiksäcke übergezogen und ihre Hände und Knie mit Schonern geschützt haben. Sie laufen nicht nur um den Jokhang-Tempel herum, sie beten mit vollem Körpereinsatz. Dabei gehen sie auf die Knie, legen sich auf den Bauch, schieben die Hände weit nach vorne, falten sie einmal kurz zum Gebet und stehen wieder auf, laufen zwei Schritte und beginnen von vorne. Langsam bewegen sie sich auf dem Pilgerweg voran und die anderen Menschen machen ihnen bereitwillig Platz.
So friedlich es hier unten auf der Straße aussieht, so bedrückend ist für mich der Blick nach oben. Unter Zeltplanen, wahrscheinlich um vor der starken Sonne geschützt zu sein, sitzen Soldaten mit Gewehren auf den Dächern und haben den Barkhor stets im Blick. Um das Gebiet rund um den Jokhang-Tempel zu betreten, müssen alle Besucher, auch wir, durch eine Sicherheitsschleuse gehen. Taschen werden kontrolliert und sowohl Tibeter wie auch Chinesen müssen ihren Personalausweis einlesen lassen. Alle Zugänge zu dem großen Platz werden überwacht, Kameras sind allgegenwärtig.
Die Menschen lächeln uns nett an, doch wirklich ins Gespräch kommen wir mit niemandem. Zu groß ist auch unsere Unsicherheit, denn wir wollen niemandem schaden. Unser tibetischer Guide Nima erzählte uns auf unserer Anreise nach Lhasa, dass lokale Busse und Autos keine Ausländer mitnehmen dürfen. Auch uns in unserem gekennzeichneten Touristenbus ist es nicht gestattet, Einheimischen eine Mitfahrt anzubieten. Zudem ist es verboten, dass wir als Ausländer Tibeter zu Hause besuchen. Es ist nicht gewollt, dass ein Austausch stattfindet. Ein Guide ist hier im Regelfall weniger ein Unterstützer und Begleiter, als mehr ein Aufpasser.
Kulturprogramm in Lhasa
In Lhasa steht für unsere Gruppe Sightseeing auf dem Plan und gemeinsam besuchen wir den Potala-Palast, den mächtigen Wintersitz des Dalai Lama. Wir schauen uns das Innere des Jokhang-Tempels an, statten am nächsten Tag dem Norbulinka, dem Sommerpalast des Dalai Lama, einen Besuch ab und dürfen am Nachmittag der Debattierstunde der Mönche im Sera Kloster beiwohnen. Nur bei dem letzten Programmpunkt sehen wir viele andere, auch ausländische, Touristen. Tatsächlich sind wir überrascht, dass so viele Ausländer hier sind, denn bislang hatten wir kaum welche gesehen und auch die anderen Sehenswürdigkeiten Lhasas haben wir uns eher mit chinesischen als mit ausländischen Touristen geteilt.
Im Norbulinka-Palast wird Nima mitten in seinen Erzählungen auf einmal still und gibt uns zu verstehen, er müsse jetzt das Thema wechseln, denn es würde uns jemand folgen. Ich drehe den Kopf, werden wir beobachtet? Ich sehe niemanden. Doch Elli aus Belgien meint, sie habe zwei Männer gesehen, die mit ihrem Handy auffällig unauffällig Fotos von unserer Gruppe geschossen hätten. Sie dachte jedoch eher an Touristen, die sich nicht trauen würden, nach einem Foto zu fragen, als an Leute, die tatsächlich ausspionieren, worüber Nima mit uns spricht.
Der letzte Abend
Abends trifft sich unsere Reisegruppe zum Abschiedsessen in einem netten tibetischen Restaurant. Zum letzten Mal essen wir gemeinsam Momos, die tibetischen gefüllten Teigtaschen, leckere Thukpa, eine tibetische Nudelsuppe, und manche bestellen sich zur Feier des Tages ein Yak-Steak. Morgen werden bis auf Jan und uns alle abreisen.
Wir hatten mal wieder Glück: Da die Agentur verbummelt hat, unser Zugticket rechtzeitig zu kaufen, ist morgen schon alles ausverkauft. So kommen wir unverhofft zu einem weiteren Tag in Lhasa, den wir – da wir uns in der Hauptstadt Tibets befinden – tatsächlich ohne Guide Nima gestalten dürfen.
Nima bittet nach dem Essen um Feedback – wie haben wir ihn als unseren Guide erlebt? Auch das ist wahrscheinlich ein Sonderfall, dass wir so etwas gefragt werden. Als ich an der Reihe bin, wird mir einmal mehr klar, dass diese Reise durch das tibetische Hochland etwas Besonderes war! Und zum größten Teil liegt das an unserem tollen Guide Nima selbst. Ich hatte vorab die Sorge, dass uns ein gelangweilter Chinese durch Tibet begleiten und uns keine Frage wahrheitsgemäß beantworten würde. Das hätte meine Selbstbeherrschung stark auf die Probe gestellt. Nima scheint es eine Mission zu sein, seinen Gästen die tibetische Sicht auf seine Heimat zu vermitteln und er geht dafür hohe Risiken ein. Hoffentlich nicht zu hohe!
Eine Frage brennt mir aber immer noch unter den Nägeln: Ist es denn nun vertretbar, nach Tibet zu reisen und können wir irgendetwas tun, um den Tibetern zu helfen? Der Einzige, der mir das beantworten kann, ist natürlich Nima. „Tell your family and friends what you have seen in Tibet. Tell how beautiful my country is and how friendly people are. Tell how you felt in Tibet, how you liked it, tell what you didn’t like. Show your pictures. Don’t forget us.”
Doch wie können wir erzählen, wie wir Tibet erlebt haben, ohne Nima und unseren Fahrer Tsendup in Gefahr zu bringen? Nach wie vor kann ich nicht klar beantworten, ob das Besuchen Tibets wirklich gut ist. Aber trotzdem bin ich froh, dass wir da waren. Es waren unvergessliche Tage auf dem „Dach der Welt“. Die Luft war selten so sauber, das Blau des Himmels selten so durchdringend, die Sonne selten so erbarmungslos und die Stille selten so drückend wie hier oben im Hochland von Tibet. Die alte Kultur und die freundlichen Menschen haben uns sehr beeindruckt, denn das Leben hier oben ist hart. Das ist es aufgrund der geografischen Lage sowieso, das wurde es aber durch die politische Situation noch mehr. Wie leicht das Leben doch für uns ist, wo wir Dank unseres starken Reisepasses überall hinfahren können, wo wir Dank kostenloser Bildung gute Arbeitsplätze bekommen, wo es möglich ist, in relativ kurzer Zeit eine Summe anzusparen, die ausreicht, um reisen zu gehen. Und wie unfair das Leben doch für Andere ist, die Einladungen ins Ausland haben, diese aber aufgrund der Regierung ihres Landes wahrscheinlich niemals werden annehmen können.
Die Menschen aus Tibet haben Dank des Dalai Lama, der um die Welt reist, um auf die Situation in seiner Heimat aufmerksam zu machen, ein starkes Sprachrohr. In diesem Sinne geht es den Tibetern vielleicht besser als den Menschen in Xinjiang im Westen Chinas, denen als Muslime ein solches Sprachrohr und die Sympathien der Welt aktuell versagt bleiben. Trotzdem wirkt die Situation hier in Tibet im Vergleich zu Xinjiang schon sehr eingespielt. Zu lange leben die Menschen wahrscheinlich schon unter den aufgezwungenen Regeln.
Wie wir von der nepalesischen Grenze durch das tibetische Hochland gereist sind, lest ihr im ersten Teil des Berichts: „9 Tage in Tibet – Ein Roadtrip durchs tibetische Hochland“
Für die Wahrung ihrer Privatsphäre haben wir die Namen unserer tibetischen Begleiter und Mitreisenden geändert.
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